Das Jahr 1917

Unser Friedensangebot im Dez.1916 war für die Entente ein Zeichen unserer Schwäche und eine Hoffnung für ihren Sieg. Demgemäß bereitete sie an allen Fronten große Offensiven vor, in denen das deutsche Heer zertrümmert werden sollte. Wir verlegten deshalb in Westen die Front nach rückwärts und verkürzten sie dadurch um etwa 50 km. Anderseits bedurften die Österreicher immer mehr der deutschen Unterstüzung. Es galt für dieses Jahr im Westen eine Front von 948 km, im Osten eine solche von 1370 km und in Mazedonien eine solche von 350 km zu verteidigen. Am 9.4.17 begann der Engländer seine Tankschlacht im Artois gegen unsere 6.Armee, die sogenannte Schlacht bei Arras. Wir hatten schmerzliche Verluste dabei. Am 16.4.17 setzte eine gewaltige Offensive der Franzosen an der Aisne und in der Champagne ein. Die Entente wollte durch diese beiden Offensiven unsere Siegfriedlinie umfassen. Auch die Franzosen gewannen Gelände, doch hatten sie ungeheuere Verluste. Nivelle mußte den Oberbefehl an Pétain abtreten; dieser verteidigte im Frühjahr 1916 Verdun, jener griff dort Oktober bis Dezember 1916 an. 

Friedensangebot des deutschen Kaisers
Friedensangebot deutscher Kaiser

Kurz vor Beginn dieser Offensiven (am 5.4.1917) erklärten die Vereinigten Staaten von Nordamerika an Deutschland den Krieg. Das bedeutete für die Entente eine ungeheuere moralische Stärkung. Unsererseits setzte am 1.2.1917 der uneingeschränkte Unterseebootskrieg ein (viel zu spät, da der Gegner Zeit genug gehabt hatte, die Abwehr wirksam vorzubereiten). Das deutsche Heer wartete ab. Im Februar und März griff die Entente an der mazedonischen Front an (bei Monastir und am Gernabogen). Im Mai wiederholten sie diese Angriffe. Gleichzeitig ging der Italiener am Isonzo vor. Sein Ziel war die Eroberung von Triest. Die Österreicher verwehrten ihm dieses Ziel; doch zeigte sich auch hierbei ein bedenkliches Nachlassen der Widerstandskraft. Der Russe hatte Ende Januar bei Mitau vergeblich angegriffen. Im März wurde der russische Zar gestürzt. Rußland wurde Republik unter Kerenski. Das russ. Heer wird befehligt von Krylenko. Eine Zeitlang ist an der Ostfront ein Schwebezustand zwischen Krieg und Frieden. 

Unser Einsatz in Wolhynien

3/4 Std. vor Mitternacht vom 20./21.5.1917 wurden wir in Rogozno (zwischen Wladimir-Wolynsk und Luzk) ausgeladen. Ein eisiger scharfer Nordwind "liebkoste" uns. Er verfolgte uns auch in die leichtgebauten Holzbaracken, die uns für den Rest der Nacht aufnahmen. Unter diesen Umständen fand keiner von uns einen rechten Schlaf. Wir erhoben uns deshalb am nächsten Morgen sehr früh von unserem Lager und machten einen Erkundungsgang in die nächste Umgebung. Dieser Teil Wolhyniens schien uns angenehmer zu sein als der Teil, den wir am Vortage durchfuhren. In sehr guter Erinnerung ist mir die Kirche von Pawlowicze, die mit ihrem grünen Dach und goldener Kugel des Turmes malerisch schön aus einer Baumgruppe aufragte. Wie die russ. Kirchen so sehr auf Schein gebaut waren (oft nur Holzbauten), wurde uns erst später bewußt. Auch der Krieg hatte seine Spuren hinterlassen, wenn es auch kein Trichterfeld war, wie wir es von der Westfront her gewohnt waren. 

Unterkunft in Twerdyn
Unterkunft in Twerdyn

Der vom Westen sehr verschiedene Charakter machte sich sofort recht empfindlich bemerkbar. Ich erhielt den Auftrag, die 9.Komp. nach Twerdyn zu führen. Eine Karte stand mir dazu zur Verfügung. Sie half mir aber weniger als mein Gefühl. Straßen und Wege, die für uns Deutsche eine Selbstverstänlichkeit sind, fehlten. An ihre Stelle treten Kolonnenwege der dortigen Kampf-und Etappentruppen. Es sind so viele und sie laufen kreuz und quer, dass man alle paar Schrtitte von neuem überlegen muß wohin man sich wenden soll. Wegweiser fehlen. Die Dörfer sind nicht so geschlossen wie ein schwäbisches Dorf. Die Gehöfte liegen oft weit zerstreut. Am Eingang in ein solches Dorf steht keine Namenstafel. Die zahlreichen Seen und Sümpfe erfordern vielfach Umwege und Abweichungen von der allgemeinen Marschrichtung. Wälder, die einem nach der Karte erscheinen sollten, kommen nicht, da sie abgeholzt sind. Der Marsch ermüdet, da er meist auf einer bis 20 cm hohen Staub- und Sandschicht erfolgt. Ein Fehlführen mußte bei der Mannschaft unter solchen Umständen unbedingt eine böse Gesinnung auslösen. Ich hatte das Glück, dass mich mein "Gefühl" nicht trügte. Nach 4 stündigem Marsch gelangte ich mit der Komp abends 10 Uhr (22.5.1917) in Twerdyn an, zum Erstaunen des Bataillons-Stabs, der "kein so sicheres Gefühl" hatte und es mit namhaften Umwegen büßen mußte. 

Das Dorf selbst bekam zunächst selten Artilleriefeuer, und wenn, so lag es gewöhnlich außerhalb des Dorfes beim Bahnhof Klementynow. Dort befand sich nämlich unser Pionierpark. Als das Feuer später an Stärke zunahm, wurde die Kirche von uns gesprengt, damit die feindl. Artl einen wichtigen Orientierungspunkt verlor. Nach meinen späteren Erfahrungen kann ich annehmen, daß ich im Hause eines Deutsch-Russen beherbergt war. Auf diesen Gedanken brachte mich nicht etwa der Umstand, dass mein Quartier frei von Läusen war, sondern die Bauart des Hauses, die sich zunächst dadurch von den Panje-Häusern (= russ.Bauernhäuser) unterschied, dass das Dach mit Ziegeln gedeckt war. Weiter - man mag darüber lächeln - war eine anständige Abortanlage vorhanden. Und dann fand ich wenige Tage später auf dem Friedhof ein auffallend hohes Kreuz mit doppelten Querbalken (Symbol der griech.kath.Kirche). Darauf stand in russischen Lettern aber doch deutsch: "Hier ruht die ehrsame Jungfrau Maria Knödler". Der Name mutete ja geradezu als guter schwäbischer an. Darüber weiter nachzudenken war mir nun allerdings nicht vergönnt. Der Regimentskommandeur, Oberstleutnant Wald, fand nämlich, daß seine Leute schon zu lange keine Flinte mehr an der Backe hatten, daß durch Schützengraben und Eisenbahhfahrt die Glieder steif und störrig waren, daß die Hand, die so ausgiebig Karten spielte keine Handgranate mehr werfen könne, daß Gruß und Haltung nicht mehr soldatisch genug waren und drgl mehr. Die Folge war ein umfangreicher Exerzier-und Schießdienst. 

Ein Beitrag zur schonungslosen Hinopferung: russischer Soldatenfriedhof in Wolhynien. Der Friedhof isr mehrere Kilometer lang.
russischer Friedhof

Mein Kompagnieabschnitt war über 1 km breit. Nur teilweise war ein Graben vorhanden. Meist bestand die Stellung aus einer Brustwehr, die aus Tausenden von Rasenstücken - im weiten Umfang zusammen geholt- aufgebaut war. Dahinter diente dem Verkehr ein etwa 1m breiter Holzrost, der an manchen Stellen 1 m über sumpfigem Untergrund lag. Bei Nacht banden sich die Leute Sandsäcke über die Stiefel, damit der Tritt gedämpft war. Ein Rückenschutz fehlte. Sehr schlecht war der äußerste rechte Flügel (das sgn. Horeneck). Die linke Hälfte lag außerhalb des Waldes, war überhaupt nicht als verteidigungsfähig anzusprechen. Nur das Insel-Wäldchen machte eine Ausnahme, lag aber dafür ständig unter Schrapnellfeuer. Deshalb war hinter meinem linken Abschnitt, ein Stützpunkt mit einem MG-Zug angelegt. Die Unterstände lagen rückwärts im sehr lichten Wald. Sie waren nur splitter-, aber nicht schußsicher. Für die Unterbringung der schweren Maschinengewehre war das besonders mißlich. Ein Trost aber blieb uns auch in dieser Lage: der Gegner lag von 600 - 1200 m ab; zwischen beiden Stellungen lag zudem der Stochod und Sumpfgelände. Im Sommer war hier ein fdl. Angriff von vornherein ausgeschlossen. Bei Nacht stellten wir außerdem Horchposten 100 m vor die Stellung. 

Der Abschnitt der Division führte die Bezeichnungen A, B und C. Wir ergänzten diese Bezeichnungen zu "Aalen", "Bruchsal" und"Cannstatt". R.I.R.122 hatte den Abschnitt A zu besetzen. Er war in 7 Unterabschnitte gegliedert und hatte eine direkte Länge von 5 km und eine eine Grabenlänge von 7 km. Das Rgt hatte zwei Bataillone in vorderer Linie und ein Bataillon in Ruhe im Braunschweiger Lager (im Zapust-Wald) mit 5 Kompagnien und in Twerdyn mit 1 Kompagnie. Die Abschnitte A1 bis A3 fielen dem einen Bataillon zu. Die 4.Kompagnie dieses Bataillons besetzte die Dorf-Stellung in Kisielin als Bereitschaftskompagnie. Das andere Bataillon besetzte die Abschnitte A4 bis A7. Der Gefechtsstand des ersten Bataillons war im Kloster Kisielin, der des andern im Bataillonswäldchen, wo im weiten Umkreis die Möglichkeit vorhanden war, einen stollenartigen Unterstand anzulegen. Unsere 9. Komp. lag im Abschnitt A7. Die Luftlinie des Abschnitts betrug etwa 1 km, die Graben- bzw. Stellungslänge etwa 1 600 m. Dieser große Abschnitt erforderte viele Leute als "Posten". Für den Ausbau der Stellung blieben da bei dem geringen Mannschaftsstand nur geringe Kräfte übrig. 

Skizze der Fronteinteilung bei Twerdyn/Kisielin
Frontverlauf Kisielin und Twerdyn

Die Arbeiten waren zunächst dadurch beeinträchtigt, dass man zu sehr der Sicht des Gegners ausgesetzt war. (Der Gegner hatte viele Baumbeobachter!) Ein Trupp war daher dauernd beschäftigt, mit Anfertigung und Anbringung neuer und Ausbesserung zerschossener Blenden. Ein anderer Trupp war mit Rasenstechen hart in Anspruch genommen. Damit verstärkte man die Brustwehr und die Stände für die Nachthorchposten. Wieder ein anderer Trupp war für das Drahthindernis verantwortlich. Dasselbe war wohl breit angelegt und in 3 facher Linie; allein der Sumpf hatte es teilweise ganz, teilweise zur Hälfte verschlungen. Darum mußten bei Nacht neue Stollen aufgesetzt werden. Von den Leuten, die das taten, nahm jeder einen schützenden Stahlschild mit. In manchen Stellungsteilen war das Gehen außerhalb der Bretterbelagen und Holzröste mit Lebensgefahr verbunden, besonders beim Horneck. Das Weg-Kommando hatte darum an den gefährlichsten Stellen ein Geländer, an den übrigen Stellen eine Stange oder einen Führungsdraht anzubringen, damit der Weg auch bei Nacht leichter zu finden war. Der träge Podblocie-Bach mußte dauernd gereinigt werden, denn eine Wasserstauung dort wäre für uns recht unangenehm geworden. Da die Reservemunition unter Feuchtigkeit litt, waren neue Depots zu bauen. Vor allem aber galt es, für unsere Hauptabwehrwaffe, die schweren M.Gs betonierte Unterstände herzustellen. 

Unter diesem Eindruck hielten wir die Wacht am Stochod. Vom 21.Juni bis 1.August 1917 war ich so in Stellung in A7. Die Komp. selber lag schon einige Tage vorher hier. Die Leute versuchten sofort, mit den Russen sich zu verständigen. Jede Nacht gingen von uns Patrouillen vor und steckten Zeitungen und Propagandaschriften (Flugblätter) ans feindliche Drahthindernis. Ab und zu gelang es auch einer solchen Patrouille, mit den Russen Verkehr zu pflegen. Allerdings litt er unter dem Übel, daß von uns keiner der russischen Sprache mächtig war. Meist beschränkte sich der Verkehr auf Tauschhandel. Unsere Leute gaben Schnaps, Zigaretten, elktr.Taschenlampen usw. und nahmen dafür Seife und Brot. Auch mein Bursche Wolfangel holte sich, solange ich noch im Urlaub war, einen Laib Brot. Eines Tages aber wurden unsere Leute geschnappt, darunter auch 3 Mann der 9.Komp., später ein weiterer. Da ging in der nächsten Nacht ein Mann auf eigene Faust los und steckte nebenstehende Warnung an den fdl. Drahtverhau. Eines Erfolges durfte er sich nicht freuen, denn in der folgenden Nacht brachte ein anderer Mann den unberührten Zettel wieder herein. Von der Division wurde nun aber jeder eigenmächtige Verkehr mit den Russen verboten. 

Der besagte Zettel:
Zettel an der Front

Text des Zettels: Warnung! Schickt den Mann wieder wo Ihr behalten!- Sonst werden von Euch geholt!! Schickt in inerhalb 24 Stunden bei Tag. Den der Hunger ist bei uns nicht so gefährlich es macht uns nur Spass von Euch Brot zu hohlen. Es ist schlecht wen ein Mann ohne Waffe komt ihn zu behalten. (Rückseite) Last die Schießerei bei Nacht! Sonst komt es noch anderst bei uns. Ich meine es gut mit Euch. Es sind doch jezt genug kaput. Gruß an die ganze Wache. [Anmerkung: die Rechtschreibfehler wurden übernommen!]

Tags darauf wurden im fdl. Graben Zivilisten beobachtet. In den folgenden Tagen steigerte die russ. Artl. ihr Feuer, und der Gegner zeigte eine rege Patrouillentätigkeit. In dieser Zeit bauten österreichische Truppen hinter uns eine 2. und 3.Linie aus. Wir mußten im Zwischengelände Schützen- und Maschinengewehrnester anlegen. Was lag in der Luft? Rechts von uns grollte die Front schon tagelang im trommelfeuerartigem Charakter. Dort (in Galizien) hatte die Kernensky-Offensive unter General Kornilow begonnen. Griff sie auch auf unseren Abschnitt über? Manchmal konnte man glauben, das fdl. Artilleriefeuer habe mehr als nur demonstrativen Charakter. Allmählich erfuren wir dann, daß der Österreicher dem russischen Druck teilweise nachgegeben hatte, dass aber 5 deutsche Divisionen aus dem Westen den fdl. Stoß aufhielten. Gleichzeitig aber stellte sich bei uns ein anderer unliebsamer Gast ein: das Sumpffieber, auch wolhynisches Fieber genannt. Vom Regenwetter wurde es begünstigt. Die Schnapsportionen wuren darum vergrößert und am 28.06.1917 wurden wir geimpft. Trotzdem war fast jeder von uns einige Tage fieberkrank. Ich war unter den wenigen, die verschont blieben.

Teil der vordersten Linie im Kompagnie-Abschnitt A6
Vorderste Front in A6

Die Nächte wurden immer lebhafter. Ich mußte den Postendienst wieder vermehren. Zweimal war auch erhöhte Alarmbereitschaft angeordnet. In der Nacht vom 3./4.7.17 sah ich nach meinen Horchposten. Solange mir der Zugführer vom Grabendienst, Offz.Stellvertreter Schaffert, meldete, erhielt er einen Schenkelschuss. Auf Posten III. fielen in der Nacht vom 9./10.7.17 beide Leute des Doppelpostens durch einen Flankenschuß. Am selben Posten stand ich mit dem U'offz. vom Grabendienst (Krauß, ein kath. Kollege) in der Nacht vom 25./26.7.17. Von hier aus begaben wir uns zu Posten II. Der Weg dorthin führte etwa 150m über freies Gelände. Wir waren in der Mitte, da warf der Gegner 3 Handgranaten. Gleich darauf setzte das Feuer von 2 schweren Maschinengewehren ein. Zu unserem Schrecken gewahrten wir, dass wir gerade in der Geschoßgarbe waren. Unsere Nasen steckten natürlich sofort im Sumpf. Von den einschlagenden Geschossen spritze uns der Dreck an die Backen. Endlich war der Gurt des Gegners leer. Wortlos erhoben wir uns. Beide hatten also das gleiche fabelhafte Glück. Wenige Schritte hatten wir getan. Inzwischen mußte der M.G.Schütze einen neuen Gurt geladen haben, denn schon wieder ratterte und knatterte er los; oder war es ein anderes M.G? Waren die Schüsse vorher zu kurz, so wurden wir jetzt überschossen, was noch entsetzlicher für uns war. Dieses teuflische Gezisch über unsere Köpfe weg! Und wenn nur ein einziger Schuß kürzer kam! Aber zu unserem Glück war das fdl. M.G. wohl fest eingestellt. Jetzt streute er rechts, der gemeine Kerl, jetzt flogen seine "Bohnen" wieder über unsere Köpfe, jetzt streute er links. Endlich war auch dieser Gurt leer. Mit tiefem Atemzug erhoben sich wieder beide. Im Innersten beglückt, erreichten wir Posten II. 

Unsere freien Stunden verbrachten wir damals mit Skatspielen. Obwohl ich oft der Leidtragende war, brachte mir das Spiel doch auch Zerstreuung, denn ich mußte nach wie vor die Komp. führen. Die Behaglichkeit wurde gestört als am 27.7.17 in unserem Abschnitt 4 Minenwerfer eingebaut wurden, die dann einen Tag lang lebhaft feuerten. Die fdl. Art. suchte sie, indem sie unseren Abschnitt ausgiebig mit Granaten belegte. Was wir in wochenlanger und mühsamer Arbeit aufbauten war an einem einzigen Tag bös demoliert. So mußten wir dann Nacht für Nacht schuften, das am Tag Zerstörte wieder auszubessern. Am 31.7.17 riß eine Granate auch das Eck meines Unterstandes weg. Die Feldküche erhielt 2 Volltreffer. Es war allmählich "dicke Luft". Da wurden wir am 2.8.17 morgens 1 Uhr abgelöst. 

3 Bilder im Ruhelager der Kompagnie:
Ruhelager Braunschweig
In der Laube vor dem Komp-Führer-Unterstand in A7 beim Skat. Im Hintergrund Hptm. Haas, links Lt.d.R.Raunecker (Ludwigsburg), in der Mitte am Tisch ich

Ruhelager Braunschweig
links ich, in der Mitte Hptm. Haas, rechts Lt.d.R.Heinkele

Ruhelager Braunschweig
Mittagsrast vor meinem Zugführer-Unterstand in A7

Während unserer Ruhezeit wurde Twerdyn mehrmals beschossen. Auch eine russische Fliegerstaffel belegte einmal ein Proviantamt mit Bomben. Da die Kirche der fdl. Artl. wohl den Richtpunkt gab, wurde sie von uns gesprengt. Im übrigen wurde unsere Ruhe gestört - und zwar in ganz gemeiner Weise - von Millionen und Abermillionen blutdürstiger Schnaken. Mit Schleiern und Handschuhen mußte man sich schlafen legen. Tagsüber hielt man sich die schrecklichen Plagegeister durch starkes Rauchen etwas fern. Neben diesen Plagegeistern fehlten natürlich die ständigen Begleiter des Soldaten nicht: die Läuse. In Rußland war ihr Paradies. Und sie luden sich beim Offizier ebenso zu Gaste, wie beim anderen. Mitunter bezeugten auch Flöhe ihr Dasein. 

In Kisielin

Als Reserve für den Abschnitt A-Süd kam die 9.Komp. am 22.8.1917 in die Dorfstellung Kisielin. Unsere tiefere Staffelung an dieser Stelle war geboten, weil ein russischer Vorstoß zweifellos auf Kisielin und die Höhe 229 nordwestlich davon abzielen mußte, wie ja auch im Vorjahr gerade hier ein Brennpunkt der russischen Offensive war. Da die vordere Linie als nicht voll verteidigungsfähig anzusehen war, wurde eine umso größere Tiefenzone geschaffen, die mit schweren M.G.s, Granat- und Minenwerfern stark besetzt werden konnte. Für die ganze Tiefenzone war außerdem ein ausgezeichnetes Signal- und Meldenetz angelegt worden. Bei Nacht und Nebel wurden 100 m vor die 1.Linie Horchposten gestellt. Sie alarmierten gegebenfalls durch lebhaftes Infanteriefeuer. Im Graben und an den Manschaftsunterständen (die Leute legten sich gefechtsbereit, also in Kleidern und Stiefeln und umgeschnallt schlafen) standen Alarmposten mit Leuchtpistolen. Bis zu den Stäben und Reserven wurde neben dem Telefon auch Relais gelegt. Die Art. hatte 3 günstige Beobachtungsstände geschaffen, in unseren Regimentsabschnitt z.B. "Eva" und "Husarenbaum". Im Wald südlich Kisielin war ein Scheinwerferzug eingebaut, der einen großen Teil des Stochodgrundes ableuchten konnte. Dort standen auch schwere M.G,s, die durch Flankenfeuer die Hälfte der Niederungen bestreichen konnten. Beim Rgt war eine Brieftaubenstation. Unterstationen waren auf der Jägerinsel, bei der Feldwache in A3 und in A7. Eine Zeitlang war dem Rgt auch ein Meldehund zugewiesen. Um sich mit all diesen Einrichtungen vertraut zu machen, mußte jeder Offizier die Stellungen abgehen (bei Tag und bei Nacht), Führer-Kommandos wurden ausgebildet, Lagen angesetzt und drgl. mehr. Ganz neu für mich Bild: Besetzungsübung war auch, dass die schweren M.G.s Lichtpatronen hatten, mit denen sie sich auf indirektes (Überhöhendes) Feuer einschossen. Die Artillerie benützte solche Lichtmunition schon seit längerer Zeit. 

Offizielle Karte der Kisielinfront für die Offiziere
Kisielin Frontverlauf

Mit meinem Hauptmann mußte ich die Stellung abgehen, die an vielen Stellen ausbaubedürftig war. Ich hatte darüber Notizen zu machen. Bei der "Roten Wand" und beim "Roten Haus" (zerstörte Fabriken im Norden des Dorfes) überfiel uns die fdl. Art. Hinter dem Roten Haus suchten wir Deckung. Zweimal krepierte eine Granate im Haus. Dann legte der Gegner das Feuer vor. Sprengstücke klirrten an die Wand, an der wir standen. Wir legten uns platt auf den Boden. Da krachte die nächste Salve, nur etwa 50 m vor uns, kurz darauf ein schweres Kaliber etwa 80 m. Wir blickten uns an. Keiner sprach. Wie auf ein gegebenes Zeichen rannten beide auf die andere Seite des Hauses. Wenige Augenblicke nur, da kam die neue Salve etwas kürzer. Ein Sprung - wir hatten ein Grabenstück erreicht. Die Komp. vorne eröffnete das Infanteriefeuer. Nun gab es kein Halten mehr. Im Laufschritt zur Kompagnie. Mit einem Schlag trat Ruhe ein. Eine fdl. Patrouille hatte sich gezeigt am hellen Tage und wurde abgewiesen. Vielleicht aber wollten die Russen gefallene oder verwundete Kameraden holen, die sie bei einer Unternehmung am frühen Morgen verloren. Wenn es sich überhaupt auf eine Formel bringen lies, so auf diese: im fdl. Lager stritt man sich ob ein Frieden um jeden Preis oder ein ehrenvoller Friede nach einem Kampf bis zum Äußersten gemacht werden soll. Und dieser Streit tobte zwischen Kriegsmüden und Kampffreudigen. Im russ.Reich wurde derselbe Kampf ausgetragen zwischen den Anhängern Lenins und denen Kerenskys.- Auf unserer Seite standen auch 2 Meinungen gegeneinander: Die einen meinten "Ruhe halten und ja nicht mehr reizen"; die andern glaubten frisches Draufgängertum fördere beim Gegner die Kriegsmüdigkeit. Unser Armeekommando (Bug-Armee, Sitz Kowel, General v. Linsingen) neigte zur ersteren Ansicht. Es wurde uns größte Zurückhaltung anbefohlen. 

Am 28.8.17 schoß sich eine schwere Batterie auf unseren Abschnitt ein. 2 gewaltige Trichter entstanden dadurch etwa 10 m hinter meinen Unterstand. Dieser selbst bebte. Die Gemütlichkeit war zunächst weg. Ein Glück war, daß die Granaten (mit Aufschlag oder Verzögerung geschossen) zu tief im Sumpf versanken, sodaß die Splitterwirkung ganz bedeutend abgeschwächt war. Wenn also der Unterstand nicht direkt getroffen wurde, war man sicher geborgen in den "Pfahlbauten". Am 31.8.17 war uns ein höllischer Abendsegen beschert. Die Batterien bei Beresko legten plötzlich Sperrfeuer vor unseren Abschnitt. Zunächst waren es leichte Kaliber. Dieses Feuer verdichtete sich auf 2 Stellen (Feldwache und Ramseck). Beiderseits feuerte auch die Infanterie sehr lebhaft und schlagartig ratterten 2-3 M.G.s von uns los. Bei der Nebenkompagnie links wurden Handgranaten geworfen. "Diesmal ist wirklich etwas los", war mein Eindruck, als ich den Unterstand verließ. Mich umsummte es unheimlich von Schrapnellstücken. Blitzartig umzuckten mich die Feuerzungen platzender Granaten und Schrapnells.

Was ist denn eigentlich los? Keiner konnte die Frage beantworten. Endlich hatte ich das erste feuernde M.G. erreicht. Warum schießen sie? Vor uns liegt eine Rauchwand. Wir durchschießen sie, weil wir nicht wissen, was dahinter kommt. "Esel"! hätte ich bald gesagt, "der Gegner schießt doch Sperrfeuer, da greift er doch nicht an!" Da fiel mir aber gerade noch ein, dass fdl. Patrouillen schon oft im Vorgelände waren, solange die fdl. Infanterie schoß (allerdings nur sehr hoch; aber uns täuschte sie dadurch doch lange). Wenn es nun auch ein Angriff sein sollte, am rechten Flügel hatte es keine Gefahr, selbst wenn die Besatzung der Jägerinsel überrumpelt worden wäre. Ungangbarer Sumpf auf 1/2 km bot hier einen natürlichen Flankenschutz. Deshalb strebte ich nach links, der Dreiecksstellung zu. Wie ich in sie einbiege, trägt man einen Toten heraus. Auch hier wußte niemand was los sei. Dieser ganze Zauber war also wahrscheinlich nur auf das ungeschickte Verhalten eines aufgeregten Posten zurückzuführen. 

Laufsteg bei der Jägerinsel (von A2 aus, links davon "Ramseck")
Laufsteg Jägerinsel

Am 3.10.17 kommt ein junger Mann aus Gomadingen und bittet um Urlaub, da sein Vater gestorben sei. Ich belehre ihn, daß er nur einen verkürzten Urlaub erhalten könne, seinen Vater sähe er nicht mehr ... er solle doch warten bis er rechtsmäßig an der Reihe sei, dann bekomme er 14 Tage statt nur 1 Woche; er solle sich das einmal überlegen und mir am Abend Bescheid sagen. Der Bescheid lautete: ich möchte doch lieber gleich gehen. Ich: gut, dann gehen Sie morgen früh zum Arzt und lassen sich untersuchen. So geschah es. Er wurde seuchenfrei gesprochen und war also urlaubsfähig. Demnach konnte er nach alter Regel die Stellung nachmittags gegen 4 Uhr verlassen, daß er abends 8 Uhr in Antonowka das Urlauberzügle erreichte. - Nach dem Mittagsessen ging ich mit meinen Zug- und Gruppenführern die Stellung ab. Da fand ich einen Posten im Graben liegend und tot. Durch die kleine Öffnung der Schießscharte mußte ihn die fdl Kugel getroffen haben. Kopfschuß. Der Tote war der genannte Urlauber. Er brannte mir sehr auf der Seele. Was wußte der einfache Mann von solchen Sorgen des Führers? Wenige Tage später würde mir der Abgang meines Schwagers Ernst ins Feld gemeldet. Er fiel am 7.11.1917 im Houtlster Wald in Flandern, als er zum ersten mal mit seinem M.G. in Stellung kam. Gleichzeitig bekam ich die Nachricht von der Verwundung meines anderen Schwagers Reinhold. 

9./10.11.17 erhielten wir folgende telefonische Nachricht: "Kerensky mußte abdanken, Lenin wurde Ministerpräsident. Er tritt für den sofortigen Frieden ein. Die Feindseligkeiten sind sofort einzustellen". Die Russen änderten ihr Verhalten nicht. Ihre Artillerie schien manchmal giftiger als vorher. Am Morgen des 11.Nov.17 (um 7 Uhr) stiegen die Russen aus ihren Gräben, johlten wie ausgelassene Kinder, winkten mit Mützen und Brotlaiben und schossen in die Luft. 2 Stunden später verdarb uns die Artl diesen Spaß. Ihr Schießen war aber nicht mehr so planmäßig wie sonst. Das schöne Herbstwetter wechselte allmählich in eine Regenperiode hinüber. Am 15.Nov.17 um die Mittagszeit schossen unsere 15 cm Haubitzen ins fdl Hintergelände. Wir schüttelten darüber den Kopf. Nachher hieß es: ein Herr des Div.-Stabes müsse vor Torschluß schnell noch das Eiserne Kreuz 1 holen. Diesen Herrn hätte ich nur vorne haben mögen, als der Gegensegen kam! Damit bin ich allerdings auf die schiefe Ebene der Kritik gekommen. Aber ich darf nicht übergehen, daß eben bei der Truppe damals das Nörgeln nicht mehr eine augenblickliche Aufwallung war, sondern daß es systematisch einsetzte. Wohl war bei jeder Tagesmeldung über die Stimmung in der Komp. zu berichten. Aber der Komp.-Führer drückte dabei wenn irgend möglich beide Augen zu. 

In der Stellung "Ramseck"
Stellung Ramseck

Am 26.11.17 begab ich mich zu den kampffreudigen Nachbarn rechts. Dort war der Friedenszustand bereits eingetreten. Nicht bloß gruppen- sondern kompagnieweise standen Freund und Feind zwischen den Stellungen. Wir in unserer Division könnten auch soweit sein, wenn nicht Sumpf den Verkehr sehr erschweren würde. Aber es war ja undenkbar, daß eine Division Frieden und die andere Krieg hatte. Rasch kam auch unsere Division in Verbindung mit der gegnerischen. Jedes Rgt bestimmte einen Platz für Verhandlungen (sog.Propagandastelle) und eine Abordnung (sog.Propagandatrupp). Die Propagandastelle unseres Rgts lag auf der Straße Kisielin - Helenow etwa 2-300 m östlich der Feldwache von A3. Die Abordnungen, die hier verhandelten, hatten einen Dolmetscher bei sich. 2 schwere M.G.s und 1 Feldbatterie waren bereit, sofort den Weg in die russ. Stellung abzuriegeln, sobald der Gegner Mißbrauch treiben sollte. Er tat es aber nie sondern von Div. zu Division wurde vom 29.Nov. 10 Uhr vorm. ab Waffenruhe vereinbart (nach russischer Zeitrechnung war das der 16.Nov. mittags 12 Uhr.). Am 30.11.17 steckten die Russen ihrer ganzen Stellung entlang weiße Flaggen auf. Kein Signalhorn ertönte, kein Dankchoral stieg gen Himmel, kein Vorgesetzter sprach zur Truppe, keine Glocke rief zum Gottesdienst. So also schritt der Friedensengel daher? Tat es ihm denn leid, daß er so früh schon auf die Erde geschickt wurde? Der Soldat ist an Enttäuschungen aller Art gewöhnt; hier erlebte ich meine größte während des Krieges. Das war kein Frieden, das war kein "Nach dem Siege bindet den Helm fester". 

Eindrücke aus Kisielin:
Kisielin von Westen
Blick auf Kisielin von Westen (links die Kirche)

rotes Haus in Kisielin
Das "Rote Haus" in Kisielin

Kloster Kisielin
Kloster Kisielin

Das angenehmste Leben hatte man jetzt in der Stellung. Man war hier sicher vor Kugeln und Vorgesetzten. Die Schnaken plagten uns auch nicht mehr. Aber die Kälte setzte uns zu. Die Zeit vertrieb man sich meist durch Kartenspiel. Daneben machte man sich Gedanken über die nächste Zukunft. Die Division rechts von uns kam nach Westen. Ob wir ihr bald folgten? Ganz entblößen durfte man die Ostfront natürlich vorerst nicht. Darum hieß es allgemein: wir bleiben. Am 14.1.18 (Neujahrstag der Russen) sollte unsere Regimentsmusik zwischen den Stellungen spielen. Wegen der Kälte unterblieb es. Jeden Nachmittag gehen 2 Offz., 2 U'Offz. und 16 Mann vor die Stellung um mit den Russen Tauschhandel zu treiben. Der "Marktplatz" war durch 3 weiße Flaggen kenntlich gemacht. Unerlaubterweise ging ich am 18.1.18 auch hinaus. Für ein Kartenspiel im Wert von 1 Mark erhielt ich Seife im Wert von 3 Mark. Die Russen sind Freunde von Taschenmessern, Spielkarten, Schnaps, Wein und Tabak. Dafür geben sie Seife und Tee. Einer der eifrigsten Händler der Russen war ein Einjähriger, ein wirklich netter Kerl.

Am 19.1.18 war ich wieder auf dem Handel. Diesmal gab es Seife für Wein. Dabei erfuhr ich, daß die Russen Befehl hätten, am 20.1.18 sich zurückzuziehen. Bd.5 -S.1042 Auch ein Zivilist war da, ein deutscher Kolonist mit 67 Jahren. Die russ. Truppen nahmen ihn vor Jahresfrist mit Roß und Wagen mit. Er bat mich, ihn durch unsere Linien zu lassen, da er etwa 30 km hinter unserer Linie zu Hause sei. Ich vertröstete ihn bis zum anderen Tag. Dann unterrichtete ich mein Rgt davon. Als er andern Tages wieder erschien, durfte ich ihm Durchlaß gewähren. Seine Dankbarkeit äußerte er unter einem Strom von Freudentränen. - Er teilte mir dabei mit, die Russen hätten ihre Gräben geräumt und seien im Rückmarsch. Mit 2 Herrn (d.h.Leutnants) ging ich auf Erkundung. Der 1.Graben war leer. Wir pirschten vor und fanden auch den 2. und 3. Graben leer. Da pilgerten wir bis Helenow und Zabora. Nur einige Zivilisten trafen wir an. 

Erste Verhandlungen mit den Russen
Verhandlungen mit Russland

Allmählich bekamen wir auch einige Klarheit über unsere zukünftige Verwendung: Die Russen verzögerten den Friedensschluß. Da wurde von der Nordarmee der Kriegszustand wieder aufgenommen. Sie marschierte in Richtung auf Petersburg vor. Das beschleunigte die Friedensverhandlungen. Der Friede kam am 3.3.18 zustande. Rußland mußte den Verlust Polens, Finnlands, Kurlands, Estlands, Litauen und der Ukraine anerkennen. Trotzdem mußten deutsche Divisionen diesen Völkern ihre Unabhängigkeit helfen erkämpfen. Es blieben 36 Divisionen im Osten. Zu dieser Zeit auch die 7.Lw.Div. Ihr fiel die Aufgabe zu, die Ukrainer zu unterstützen. In Wirklichkeit aber war unser Einmarsch in die Ukraine von unserer Wirtschaftsnot diktiert.

Der Ukraine Feldzug

Von Mitte Februar 1918 ab war in der Division Urlaubssperre verhängt und Marschbereitschaft angeordnet. Am 16.2.18 baute der größte Teil der Komp. das Proviantamt bei Ozdziudycze ab, als der Befehl kam, bis 10 Uhr müsse alles in den Quartieren sein. Um 4 Uhr ist Komp.-Führer Besprechung. Unsere Lage und Verwendung brachte uns alle in gehobene Stimmung. Es stand uns in Aussicht, was ein Soldatenleben lieb und schön macht: Bewegung, rascher Wechsel der Bilder, gute Verpflegung, gemütliche Quartiere, Kampf. 

Unsere Pioniere hatten am Vortage und in der Nacht die fdl Stellungen passierbar gemacht. Nach dem, was wir hier sahen, gewannen wir den Eindruck, daß die Russen darin eine miserable Unterkunft haben mußten. Eine Latrine war überhaupt nicht zu entdecken. Gleich hinter der Stellung kam ein schöner, kaum zerschossener Wald mit gutem Anmarschweg. Nach Verlassen desselben strebten wir dem schön auf der Höhe gelegenen Zubilno zu. Einige Einwohner, die während des Kriegszustandes abgeschoben worden waren, suchten ein paar Habseligkeiten zusammen und schauten uns ganz verdutzt an. Wir aber zogen unaufhaltsam weiter und erreichten um die Mittagszeit das reizende Städtchen Torczyn. Große Depots (die aber geleert waren) und bombensichere Unterstände (wahrscheinlich für "mutige" Stäbe gebaut) trafen wir an. Das Städtchen hatte auch eine Brauerei, aber wir machten Rast ohne Einkehr. In Usicze blieb der Stab. Wir hatten von Torczyn bis hierher eine breite gepflasterte Straße. Das waren unsere Füße nicht (mehr) gewohnt; und manchen wurde das Marschieren beschwerlich, besonders auch deshalb, weil entlang der Straße viele tote Pferde lagen, die einen ekelhaften Gestank verbreiteten. Dieses Bild begegnete uns auf unserem Vormarsch noch öfter. Oft aber machte sich ein Rudel wild umherschweifender Hunde über den Fraß her. 

Skizze der Marschroute
Ukraine Feldzug

Mit einen Gegner wurde an diesem Tag nicht gerechnet. Deshalb ritt ich mit Lt. Bürkert (Führer der 6.) vor nach Horodnika-Mala, wo unsere beiden Komp. Quartier beziehen sollten. Die Einwohner zeigten uns feindliche Mienen. Wir teilten rasch die Häuser ab, und jeder lief dann Haus um Haus ab und notierte sich die Stärke der Belegung. Gegen besonders Widerspenstige riß ich meine Pistole heraus. Da entstand ein furchtbares Weibergeschrei und im Nu gab es einen Auflauf. Mein Augenmerk richtete sich auf 2 ganz verwegen aussehende Burschen. Ich schoß vor ihnen in den Boden. Einige Weiber stürzten kreischend davon, die übrigen traten einige Schritte zurück. Auf den Schuß eilte mein Kamerad Bürkert herbei. Da verzog sich der Haufen teilweise. Solange ich in ein Haus ging, stand er außen Wache. Nachher ging er seinen Bezirk vollends ab, und ich stand Wache. Dann suchten wir unsere Pferde, die wir an einen Zaun gebunden hatten. Wir waren froh, daß sie noch da waren. Als wir abritten grinsten uns einige Burschen herausfordernd nach. Nach 1/2 Stunde rückten wir mit unsern Kompn. wieder in das Dorf ein. Von den Burschen war keiner mehr zu sehen. Sie sollen in ein Nachbardorf geflüchtet sein. Während der Nacht richteten wir einen verstärkten Wach- und Postendienst ein.

Als strategisches Ziel wurde uns genannt: die Ukraine (= Südrußland) kämpft um seine Unabhängigkeit, wird aber hart bedrängt. Die vorläufige ukrainische Regierung (die sog. Rada) schloß mit Deutschland seinerzeit (9.2.1918) einen eigenen Frieden - den sogen. "Brotfrieden"- ab, d.h. die Ukraine, die eine reiche Kornkammer ist, liefert uns Getreide. Dafür gewähren wir ihr Waffenhilfe gegen die Bolschewisten (= Kommunisten). Ein größerer Warenverkehr nach Deutschland war aber nur dann möglich, wenn in der Ukraine geordnete Zustände, Unabhängigkeit von Rußland und eine gefestigte Regierung vorhanden waren. Um die letztere zu ermöglichen, marschierten die deutschen Divisionen.unter dem Oberbefehl des Generals Eichhorn in die Ukraine ein. Im Grunde genommen verteidigten wir nicht ukrainische sondern deutsche Interessen, wobei das wirtschaftliche Ziel über dem politischen oder gar strategischen lag. Das letztere lag besonders darin: das kriegsmüde Österreich nochmals aufzurütteln und ihm das Durchhalten zu erleichtern. Leider wurde später keines dieser Ziele erreicht. 

Der 26.2.1918 Tagesziel ist die 17 km entfernte Festung Rowno. Sie ist die stärkste im bekannten russ. Festungsdreieck, wozu die landschaftliche Beschaffenheit viel beiträgt. Vor dieser Festung zerbrach im Sept.1915 die Stoßkraft der österr. Armeen. Damit entglitt den Mittelmächten ein Cannae- Sieg größten Ausmaßes. Strategisch hätte sich ein solcher nach meiner Ansicht so ausgewirkt: das russ. Heer wäre so furchtbar erschüttert gewesen, daß der Friede mit Rußland 1 Jahr früher gekommen wäre. Die Brussilow-Offensive des Jahres 1916 wäre wohl unterblieben. Das hätte moralisch auf die Truppen der Westmächte gewirkt, Rumänien hätte nicht den Krieg erklärt usw. Die gewaltige Krise des Jahres 1916 wäre nicht bei uns, sondern bei unseren Gegnern eingetreten. Wir gelangten ohne Kampf in die Stadt, die 30 000 Einw. zählen mochte (darunter 3/4 Juden). Die Kompagnien wurden wegen der Unsicherheit in der Artl-Kaserne untergebracht, die Offz. in Privathäusern in nächster Nähe. 

Wolhynisches Festungsdreieck Luck-Dubno-Rowno
wolhynisches Festungsdreieck

Der 1.3.1918. Zur Vorsicht miete ich 3 Panjewagen (russ. Pferdewagen), da uns 30 km bevorstehen, und also die Gefahr vorliegt, daß es Fußkranke gibt. Die Komp. ist schon beim Antreten (4.30 Wecken, 5.30 Antreten, 6.00 Abmarsch) recht ungehalten, da ich nicht wahllos Tornister aufladen lasse. Mit Lt.Schwarz (Führer der 2. M.G.-Komp.) reite ich voraus nach Korczec. Dort macht sich der Div. Stab breit. Von 12-3 Uhr laufe ich die Häuser ab nach Quartieren. 3.15 rückt die Komp. ein. Die Leute müssen auf den platten Boden liegen ohne Stroh. An Stallungen ist größter Mangel, wie auch an Brunnen. Mit Lt.Raunecker (aus Ludwigsburg, einer meiner Zugführer) kriege ich Quartier bei der Judenfamilie Kipperband. Das Städtchen starrt vor Schmutz. Zudem sind die Straßen voll Schneesulz. 

Am Spätnachmittag desselben Tages (8.3.1918) erreichten wir das Transportziel: Berditschew. Das I. und II. Btl finden Unterkunft in der Art.-Kaserne, III. Btl in der Handelsschule. Eng waren die Quartiere, die Stadt schmutzig. Um im Schmutz nicht stecken zu bleiben, mußten Bohlen auf Holzbänke gelegt werden. Die Offiziere trafen sich gewöhnlich im Hotel Jean, wo es recht gemütlich war. Die Bevölkerung zeigte sich sehr feindlich. In der Nacht vom 11./12.3.18 war ein Überfall auf die in Privatquartieren untergebrachten Offiziere geplant. In die umliegenden Ortschaften mußten Strafexpeditionen durchgeführt werden, an denen sich ukrainische Kavallerie beteiligte. Daß unsere Regimentsmusik sich auch einmal wieder sehen und hören läßt, ist beinahe eine Sensation. In der Heimat scheint man unsern Vormarsch nicht zu verstehen. Aber er bringt uns viel Abwechselung und wir stehen seitdem besser "im Futter". Will die Heimat uns das nicht gönnen? Das frische Schweinefleisch trägt aber zu umfangreicher Verbreitung der "Catrina Hurtica" bei. In Berditschew liegen wir bis 15.3.18. 

Nach Jekatarinoslaw

Am 17.3.1918 werden wir in Nosatschew ausgeladen, wo auch der Divisionsstab Quartier bezieht. Mein fixer Pferdebursche Krauter hat aber vorher dort reichlich Habe requiriert. Vizefeldwebel Jetter macht für die Kompagnie Quartier. Im ersten Haus legt er sein Lederzeug mit Pistole! ab. Eine kranke Frau liegt dort im Bett. Die Nachbarin kommt zur Pflege und mit ihr ihr 18 jähriger Sohn. Dieser macht sich an der Pistole zu schaffen. Ein Schuß löst sich und trifft die Mutter des Bengels in den Hinterkopf. Der Tod trat sofort ein. Berichte sind zu machen, den Gerichtssitzungen habe ich beizuwohnen und dabei muß ich alles tun, meinen Vizefeldwebel aus der Klemme zu bringen. Am 18.3.1918 wird die Frau beerdigt. In der Kirche ist Trauergottesdienst. Der Sarg wird nach demselben offen herausgetragen und auf einen Wagen gewöhnlichster Art abgestellt. Auf dem Leichnam liegt ein Laib Brot. Am Kirchentor stellt sich der Mesner auf und beugt sein Haupt, damit der Pope eine Auflage für sein Gebetbuch hat. Nach dem Gebet setzt sich der Trauerzug in Bewegung, Gebete murmelnd, alles in Alltagskleidung. 

Unser Regiment tritt am 2.4.1918 den weiteren Vormarsch an und zwar 1. und 2. Btl auf dem Fahrweg, 3.Btl auf der Bahnlinie. Dieses Btl wird beschossen, erleidet aber keine Verluste. Wir anderen haben einen beschwerlichen Marsch; die Fahrzeuge kommen auf dem grundlosen Weg kaum vorwärts. Und doch ist das Tagesziel 40 km weit gesteckt. 15 km vor dem Ziel werden wir Berittenen vorgeschickt zum Aufklären und zum Quartiermachen. Wir reiten direkt auf dem Bahnkörper. Einige ukrainische Kavalleristen sind bei uns. Unterwegs fragen sie einen Bahnwärter: bist du Bolschewick? Kaum hat er ja gesagt, hat ihn die Kugel schon niedergestreckt. Vielleicht war er gar nicht Bolschewist, sondern glaubte nur, solche vor sich zu haben. 500 m sind es noch bis zum Ziel: Bahnhof Zaporocze. Wir reiten in einen Einschnitt ein. Da krachen Schüsse. Eine Lokomotive fährt uns entgegen. Für uns gilt es, so schnell als möglich aus dem Einschnitt herauszukommen. In der Stockdunkelheit geraten der Führer der 2.M.G.Komp.(Lt. Schwarz) und ich in eine Schlucht. Wir sind im Schweiß gebadet von den Anstrengungen, die nötig wären, wieder herauszukommen. Ein Wunder, dass Mann und Pferd noch ganz waren. Unsere Kameraden lagen an der Bahhböschung in Stellung. Ein paar hielten die Pferde, die andern pirschen vor. Wir mochten noch 100 m vom Bahnhof weg sein, da dampfte ein Zug ab. Es war die bolschewistische Nachhut. In denkbar engster Belegung nächtigte das Rgt im Bahnhofgebäude und seiner nächsten Umgebung. 

3.4.1918 Ukrainische Reiter, zur Aufklärung vorausgeschickt, melden starke Besetzung von Jekaterinoslaw. Ein Panzerzug wird vorgeschickt (Führer: Ltn.Keuerleber). 13 Uhr fährt vom Rgt Transport I (5., 6. und 2.M.G.K) unter Führung von Major Scharwächter ab. 1 Geschütz (7,5cm) ist beigegeben. Wir fahren langsam und vorsichtig auf die Station Diodwka (letzte vor Jekaterinoslaw) ein. Ich trete auf die Plattform des Wagens und entdecke, dass wir von der feindl. Artillerie bereits überschossen werden. Kurze Meldung. Der Zug steht. Wir springen an den Damm der Brücke vor und beobachten durch unsere Feldstecher. Aha, vorn bei der Fabrik liegt die Besatzung unseres Panzerzugs in heftigen Kampf. Unser Geschütz nimmt die Fabrik unter Feuer. Nun hat uns der Gegner entdeckt und richtet sein Art.Feuer auf uns. Er schießt viel, aber schlecht. Als erste Welle arbeitet sich die 6.Komp. (Lt.Bürkert) vor, gefolgt von der 5. Komp. (Lt.Vöchting). Der Gegner ist sehr stark. Er will uns rechts umgehen. Unsere Reserve-M.G. wehrt ihn notdürftig ab, doch wie lange. Im kritischen Augenblick trifft Transport II mit 7. und 8.Komp. ein. Der angreifende Flügel des Gegners wird geworfen und reißt die feindl Front mit. Der Stab geht auf dem Bahnkörper selbst vor.

Der Gegner wird mitten in seinem Abtransport gestört. Die Art. schießt einen seiner Züge in Brand. Gleich darauf wird der Bahnhof im Sturm genommen. Die 7.Komp stoßt darüber hinaus vor an die 1,5 km lange Dnjeperbrücke. Es ist eine Doppelbrücke (unten Eisenbahn, oben der übrige Verkehr). Solange sie unten vorgeht, geht oben feindl Kavallerie vor. Kurze Zeit heilloses Durcheinander, da es schon dunkel geworden ist. Trotzdem gelingt es der 7.Komp. die feindl. Kavallerie abzuschneiden d.h. ihr den Rückweg über die Brücke zu versperren. Sie rettet damit zugleich die Brücke selbst, die zum Sprengen vorbereitet war. Der Feind, dem zur Flucht keine Zeit mehr geblieben war, verteidigte sich im und beim Bahnhof. Ein furchtbares Gemetzel begann. Die uns zugeteilten Ukrainer machten alle Gefangenen nieder. Im Wartesaal lagen die Leichen geschichtet. Bis an die Knöchel konnte man im Blut waten. (Andern Tags wurden alle Tote zusammengetragen und auf dem Bahnhofsvorplatz aufgebeugt. Über 200 waren es auf engem Raum in und am Bahnhof. - schauderhafter Anblick). Es war bis jetzt der härteste Kampf mit den Bolschewicken, die zusammen über 500 Mann verloren gegen 7 Tote und 12 Verwundete auf unserer Seite. 

Am 6.5.18 erreichten wir das Asow'sche Meer zwischen Taganrog und Rostow. Ein langer Halt auf freier Strecke gestattet ein Bad irn Meer. Dann werden wir ausgeladen. Grund: wieder einmal eine gesprengte Brücke. In dem großen, von (ihres Glaubens wegen vertriebenenen) Armenier gegründeten Dorf Mokry-Tschaltir beziehen wir Quartier. Ich wohne bei der Familie Atojan. Der einzige Sohn wurde vor 2 Monaten von Bolschewicken totgeschlagen. Die sehr mißtrauische Bevölkerung hält im Gegensatz zu den Russen sehr auf Reinlichkeit. Aus diesem Grunde meiden sie meist die saubere Wohnstube und hausen in den unteren niederen Gelassen des Hauses. An den Häusern sind lange Reihen von Fischen zum Trocknen aufgehängt. 

Skizze des Asow'schen Meeres
Asow'sches Meer

In Rostow

Der Angriff auf Rostow erfolgt am 8.5.18. 3.30 in der Frühe marschiert die erste Angriffsgruppe ab. Ich bin zur Zeit Führer der großen Bagage. Um 8 Uhr brechen wir auf. Auf der letzten Höhe vor Rostow lasse ich halten. Prächtig liegt die Stadt vor uns. Auch gewährte die Höhe einen guten Einblick in die Gefechtshandlung. Am rechten Flügel, entlang der Bahnlinie, wo unser Regiment zum Angriff angesetzt war, war der Gefechtslärm am stärksten. Der Artilleriebeschuß lag am stärksten auf dem Bahnhofsgelände, wo bald Flammen und Rauchfahnen Brände anzeigten. Um die Mittagszeit ließ der Gefechtslärm nach, die unsrigen mußten in die Stadt eingedrungen sein. In Rostow 8.5.18 bis 10.6.18 Der Widerstand der Bolschewicken war auf dem Bahnhof heftig, die Bevölkerung leistete kaum Widerstand. Ich nehme Quartier bei dem jüdischen Fabrikanten (Karton-Fabrik) Perelmann. Er spricht sehr gut deutsch und verfügt über eine stattliche Anzahl deutscher Bücher. Auch seine Frau spricht gut deutsch. Sie studierte in Deutschland Ärztewissenschaft. Hier treffe ich auch einen deutschen Kriegsgefangenen an: U'offz. Leibstein von Inf.Rgt. 107 in Leipzig. Ich beschlagnahme ihn sofort als Dolmetscher, doch wird er bald unzuverlässig. Die Bolschewicken zogen sich in südl. Richtung auf das 8 km entfernte Bataisk zurück. Damit haben sie sich unserem direkten Angriff zunächst entzogen, denn zwischen uns und ihnen liegt der breite Don-Fluß und große Seen und Sümpfe. Nur ein Bahndamm mit 4 großen Brücken gestattet hier einen Verkehr. Die Gegner haben dazu sehr geschickte Verdeidigungsanlagen geschaffen, verfügen über etwa 100 000 Mann und sehr viele Maschinengewehre und Geschütze. In wenigen Tagen hat unser Rgt 24 Tote und etwa doppelt soviel Verwundete. 

40 Stunden lang war ich nicht mehr zu Ruhe und Schlaf gekommen. Dafür sitze ich aber jetzt auch als Verpflegungsoffizier in Bataisk und kann mich einige Tage erholen. - Das ist aber soldatisch zu verstehen. Am 10.6.1918 früh 2 Uhr scheuchten uns die Bolschewicken auf. Sie griffen auf ganzer Front dem Brückenkopf an, besonders den rechten Flügel bei Kaysug, wo unser III. Btl stand. Barfuß und hemdärmelig kämpften z.T. unsere aus dem Schlaf aufgerüttelten Leute. Erst nach schwersten Verlusten wich der Gegner etwas zurück. Gleichzeitig liegt die Stadt Taganrog, in dem das Generalkommando untergebracht ist, unter starkem fdl Artilleriebeschuß. Unser Btl. wird alarmiert und nach Taganrog abtransportiert. Von dort aus erreichen wir nach 2 1/2 Stunden Fußmarsch in später Abendstunde das Dorf Fedorowka (11.6.18). Am Dorfrand wird in Strohhaufen biwackiert. Dort bleibt die Gefechtsbagage, während ich zunächst mit dem Btl. vorgehe. Die Lage ist folgende: Gegner landete in der Nacht Truppen zwischen Mius-Bucht und Tagarog und bedrohte die Stadt. Es galt, ihn ins Meer zu werfen. Bald stellt sich bei uns Munitionsmangel ein. Ich reite also nach Taganrog, requiriere Panjefahrzeuge und schaffe Munition vor. Ich fahre vor bis auf die letzten Dünenhügel vor dem Meer, ohne mein Btl oder andere eigene Truppen zu finden. Vor mir liegt das Meer und eine Ortschaft. Am Ortsrand macht sich ein Posten bemerkbar. Ich kann nicht herausbringen ob es Freund oder Feind ist. Plötzlich taucht ein deutscher Art.- Leutnant vor mir auf, der mir die Stellung des Btl angeben kann. Ich bin heilfroh und vergesse die Müdigkeit eines 70 km Rittes. Mit einbrechender Dunkelheit ist das Btl mit Munition versorgt und 1 1/2 Std. später (am 12.6.18) bin ich wieder bei der Gefechtsbagage. 

Die verschiedenen Gerüchte von der Verlegung unserer Div. bewahrheiteten sich nicht. Das Bataillon war immer noch in Taganrog. Hatte ich vor meinem Urlaub die 5.Komp. stellvertretend geführt, so jetzt die 8.Komp. Natürlich interessierte die Kameraden die allgemeine Lage und die Stimmung in der Heimat. Leider konnte ich über beides keinen erfreulichen Bericht geben. Nach dem Urlaub ist die Stimmung an und für sich nicht besonders gut. Zahnweh, das ich mir durch Erkältung bei der Herfahrt zugezogen hatte, der Mißerfolg bei der Bewerbung um eine ständige Lehrstelle, Regenwetter u.a. haben sie noch mehr herabgedrückt. Mit dem Wechsel des Postens war auch Quartierwechsel verbunden: Ein finsterer "Winkel" bei einer "alten Schachtel". Der Btls-Führer, (Hptm. Haas) nahm mir schon vor dem Urlaub den netten Apfelschimmel der 5.Komp. weg und während meines Urlaubs auch meinen Liebling, das "Füchsle" der 7.Komp. Besonders ärgerlich war dabei, daß den Apfelschimmel in der Hauptsache sein Quartierfräulein reiten durfte. "Füchsle"hatte er für sich selbst bestimmt. Weil aber das Reiten auf "Füchsle" für ihn wiederholt gefährlich wurde, gab er es später wieder zurück, zumal er etliche Grobheiten von mir einstecken mußte. 

Kompagniepferd "Füchlse" mit Ltn. Neuffer
Kompagniepferd Füchsle

Daß die militärische Lage sehr kritisch war, spürte jeder von uns. Deutlicher wurde es, als man daran ging, die Divisionen im Osten auszukämmen. Meine Kompagnie hatte 3 Unteroffiziere und 27 Mann an die Westfront abzugeben. (Mein früherer Bursche Wolfangel war auch dabei. Als aber die Männer nach einigen Tagen wieder zurückkamen, war das nur ein schlimmes Vorzeichen). Der Zusammenhalt der Truppe begann sich zu lockern. Unter den Offizieren bildete sich der "B-Klub", der immer lauter verlangte, daß die Schwindeleien aufhören sollen und die Regierung endlich die volle Wahrheit sagen soll. Angefangen wurde dabei in den Reihen des Btls. Unser Verpflegungsoffizier Lt. Digele (Bankinhaber und schwedischer Generalkonsul in Stuttgart) wurde vom B-Klub zuerst aufs Korn genommen. Durch seine Schwindeleien und Schiebereien konnte nicht nur der Stab feudal leben, sondern dessen Angehörige in der Heimat bekommen auch verdächtig viele Pakete. Da ich selbst eine Zeitlang sein Stellvertreter war, bekam ich mehr Einblick als meine Kameraden. Wir verlangten seine Absetzung und wollten ihn auch nicht mehr unter uns im Kasino haben. Der Stab aber hielt ihm die Stange. Als Digele dann doch wieder im Kasino erschien, verließen wir anderen geschlossen das Kasino und ließen den Stab mit Digele allein. Erfolg hatten wir auch damit nicht. Man war empört, mußte aber doch weiterhin den schuldigen Gehorsam leisten. Aber wo eben bei einer Truppe Vertrauen und Kameradschaft zerstört werden, können sie auch durch Kadavergehorsam nicht mehr ersetzt werden. "Die Geister" fingen an, sich zu scheiden - fern der Heimat! 

2 Tage später erfolgte unser Abtransport mit unbekannten Ziel. Meist wurde die mazedonische Front vermutet. Aber entweder wußten die "oben" selbst nicht wohin oder eilte es nicht allzusehr. Jedenfalls blieben wir oft stunden- ja halbe Tage lang auf einer Station liegen. Überraschend wurde dann der westliche Kurs geändert in einen südlichen. Am 1.11.1918 wurden wir in Odessa ausgeladen. Nun umschwirrten uns wieder die verschiedensten Gerüchte: 1 Regiment mit Artillerie bleibt hier, der Rest der Division kommt nach Braila in Rumänien. - Der Sturm geht zu stark (2 österreichische Transporte seien untergegangen), deshalb müsse erst günstigeres Wetter abgewartet werden - es fehle am Schiffsraum, der für den Rücktransport des Palästinakorps benötigt werde - die ukrainischen Matrosen weigerten sich zu fahren aus Furcht, die Engländer könnten durch die Dardanellen durchbrechen - usw. Eins ist jedenfalls sicher : wir fühlten uns in Odessa nicht wohl.

Odessa

Odessa gehörte bisher zum österreichischen Verwaltungsbezirk und hatte österreichische Besatzung. Was davon noch da war, war unzuverlässig. Gewöhnlich blieben sie nur zurück, um zu plündern und zu "schieben". Wer davon genug hatte, lief einfach davon. Andere machten mit dem Bolschewicken gemeinsame Sache. Der österreichische Gouverneur der Stadt erschoß sich; er soll sich durch Schiebungen 2-3 Millionen Mark ergaunert haben. Die Bolschewicken nützen selbstverständlich diese Lage aus. Allnächtlich kommt es zu Schießereien. 

Am 10.11.18 wurde uns das große geschichtliche Ereignis bekannt: der Kaiser nach Holland geflohen, Deutschland Republik mit Scheidemann als Präsident, Revolution in Berlin. Ich ließ sofort meine Komp. (soweit die Männer nicht auf Posten standen) antreten und gab das Ereignis bekannt. Meine eigenen Gedanken hierüber hielt ich zurück; ich begnügte mich mit der Frage: Wollen wir solange noch fest zusammenhalten, bis wir in der Heimat sind? Die Antwort lautete: jetzt brauchen wir erst recht eine Führung; wir wollen zusammenhalten wie bisher und erwarten, daß wir bald in die Heimat zurückgeführt werden. Eine schönere und verständigere Antwort hätte ich nicht erwarten können. Meine Männer meinten es ernst. Als in jeder Komp. ein Soldatenrat gebildet werden mußte, bestehend aus 1 Offizier, 1 Unteroffizier, 1 Gefreiten und 1 Mann, erhielt ich von 71 abgegebenen Stimmen 69. Meine Komp. zeigte in diesen Tagen, die so überaus kritisch waren, die beste Haltung im Btl. 

Am 28.11.18 verließen wir Odessa. Ganz langsam fuhr der Zug, in dem wir eingepfercht und gefechtsbereit saßen. In Rasdelnaja stiegen 2 österreichische Offiziere zu, die meldeten, daß ihr Transport von Petljura-Truppen entwaffnet worden sei. In Birsula wollten uns diese Truppen nicht weiterfahren lassen. Wir erzwangen uns die Weiterfahrt. Unsere 3. Kompagnie, die dort lag, bat uns sie mitzunehmen. Der Wagenmangel ließ es leider nicht zu. In Wapnjarka wurde der Zug wieder von Petljura-Truppen aufgehalten unter Vorgabe es sei vor uns die Brücke zerstört. Eine Komp. dieser Truppen war aufgestellt, uns die Waffen abzunehmen. Wir gingen am Zug in Stellung. Dann ließen wir den leeren Zug mit Sicherungsmannschaft langsam vorfahren und marschierten dem Bahnkörper entlang mit bis zur Brücke. Sie war unversehrt. Auf der Station am andern Ufer trafen wir deutsche Soldaten (Ulanen) als Bahnhofswache an. Das erleichterte unsere Gemüter vorübergehend. In Smerinka sollten wir wieder entwaffnet werden. Dem Bahnkörper entlang lagen die fast nackten Leichen von etwa 120 deutschen Soldaten. Es handelte sich um eine Landwehrkompagnie. Sie ließen sich bluffen. Auf das Versprechen, nach Ablieferung der Waffen sofort an die Grenze befördert zu werden, gaben die Landwehrmänner Waffen und Munition ab. Dann wurden sie gezwungen auszusteigen und als sie dagegen protestierten, wurden sie niedergeknallt und ausgeplündert. Uns war das eine gute Lehre. 

In Kiwerzy (nach Rowno) gab es längeren Aufenthalt. Eine Abteilung mußte im Sonderauftrag nach Luck und dort helfen eine eingeschlossenen Komp. befreien. Am 6.12.18 erreichten wir endlich Kowel, das man als rettendes Ufer betrachtete. Als wir ankamen, erklärte die Mannschaft kurzerhand: "Wir steigen nicht aus!" Es war Nacht und bitter kalt. Die Kälte trieb uns alle aus dem Wagen; man sprang wie närrisch herum, um etwas warm zu werden. Die Vorstellung: "Eure Kameraden, die noch Hunderte von Kilometern weiter im Osten stehen, vertrauen auf euch. Sie erwarten von euch, dass ihr zu ihren Schutze hier bleibt, bis auch sie das rettende Ufer erreicht haben", rührte die Schwabenherzen. Die Männer trugen ihr Gepäck aus dem Wagen und bezogen ungeheizte Baracken, als eben ein neuer Tag heraufdämmerte. 

Unsere Männer sahen glücklicherweise ein, dass es nicht ratsam ist, die Waffen abzugeben, wenn man noch mehrere hundert km von der Grenze entfernt ist. Unsere 2.Komp. traf vor 2 Tagen hier ein. Sie war entwaffnet. Die Pferde, Fahrzeuge, Gepäck und selbst Geld wurde ihnen abgenommen durch Petljura-Truppen. Durch eine Kriegslist kam sie allerdings wieder zu Waffen. Weiter hieß es: "Eine Schwadron der württembergischen roten Ulanen sowie ein Bataillon des württb. Landsturmregiments Nr.19 soll entwaffnet worden sein. Die 3.Komp. unseres Regiments sei vermißt usw". Wieviel davon lediglich Gerücht war, weiß ich nicht. Soviel aber ist sicher: Verschiedene Einheiten wurden auf dem Rücktransport in heftige Gefechte verwickelt. Unser Transport war der letzte aus Odessa. Die Truppen, die noch dort lagen, wurden von Entente-Truppen entwaffnet, mit dem Schiff nach Saloniki transportiert und dort noch 4 Monate interniert. 

Weihnachten (1918) nahte und ich traf meine Vorbereitungen, es in der Kompagnie gebührend feiern zu können. Da stürzte am 23.12.1918 gegen 7 Uhr Vizefeldwebel Heine ganz aufgeregt ins Zimmer und meldete: "Herr Leutnant, ich glaube Lt.Volz ist tot". Mehr brachte er nicht heraus. Ich dachte an einen Über-oder Unfall. Sofort begab ich mich ins Quartier von Lt. Volz und fand ihn halb angekleidet mit einem Herzschuß tot auf dem Bett liegend. Die Pistole (Mauser 08) lag ebenfalls auf dem Bett. Es war also klar, dass Lt. Volz den Freitod gewählt hatte. Auf dem Tisch lag das Tagebuch, dessen letzter Eintrag lautete:

"Mein deutsches Volk, wie tief bist du gesunken
von deiner Höh; denn dir hat Gott gegeben
die Kraft zum Siege. Doch dein höchstes Streben
hast selbst geknickt du; und den Gottesfunken
in dir hast du erstickt und selbst gewählt
hast du dir dein erbärmlich Sklavenjoch.
Herr sollt'st du sein auf Erden; dir jedoch,
dir hat der Wille und der Mut gefehlt.
So führe nun jahrhundertlang dein Leben
als armer Bettler, hast ja jetzt den Frieden.
Was du gewünscht, das ist dir jetzt beschieden,
Erfüllung fand dein niedrig-knechtisch Streben.
Mein Volk, verachten muß ich dich in Zorn und Schmerz,
und kann doch anders nicht als lieben dich,
dich lieben ohne Grenzen ewiglich.
Und diese Liebe bricht mir noch das Herz.-
Ein Weg ist offen: leben ist nicht not,
doch frei sein, das ist not.
Zum Knecht, den Feinden dienstbar, tauge ich nur schlecht.
Den Feinden meinen Hohn: Komm, Bruder Tod!"

Sicherlich hat unser Kamerad Volz hart mit sich gekämpft, denn die letzten Zeilen (von "Ein Weg ist offen" ab) mußten unmittelbar vor der Tat niedergeschrieben worden sein. Warum Lt. Volz, der von Beruf Pfarrer war und in Kirchheim u/Teck Frau und Sohn hatte, keinen andern Ausweg finden konnte, ist mir nie ganz klar geworden. Am Heiligen Abend haben wir ihn auf dem Friedhof in Kowel zur letzten Ruhe gebettet. Als ich später Frau Volz darüber berichtete, sagte mir diese seelenstarke Frau: "Wenn niemand meinen Mann verstehen kann, so verstehe ich ihn umso besser. Mein Mann konnte gar nicht anders handeln. Schwer wird mir nur, es einmal unserem Jungen verständlich zu machen".

Wir feierten Weihnachten und auch Neujahr in Kowel. Viel Stimmung kam nicht auf; die Voraussetzungen dazu fehlten. Man schleppte sich durch die Stunden und Tage nur mit dem einzigen Gedanken: Heim. Nicht von eigentlichem Heimweh waren wir ergriffen; aber schließlich wollte man eben nicht vor den Toren der Heimat im letzten Augenblick sinnlos krepieren. Die Verbindung mit der Heimat war äußerst mangelhaft. Von zuverlässigen Nachrichten war keine Rede mehr. Gerüchte aber lauten ja eigentlich nie gut. Sicher war für uns allein das: wir mußten auf der Heimfahrt durch polnisches Gebiet, und die Polen waren uns nicht gut gesinnt.

Heimkehr

Schließlich wurde aber unser Heimtransport rascher Wirklichkeit als wir dachten. Leider ging mir mein Kriegstagebuch verloren, sodaß ich nicht mehr alle Einzelheiten hier verzeichnen kann. Ich glaube es war der 4. Januar 1919, als wir Kowel verließen. Furchtbar enggepfercht saßen wir und konnten uns kaum rühren. Die Fahrt ging über Krymno - Brest-Litowsk - Bjelsk - Bjelostok - Osowiec und Grajewo. Die erste deutsche Station war Prosken. Heiliger Heimatboden, du hast Not und Tod, Kampf und Sieg geschaut! Geweihte Heimaterde, du hast das Blut von Freund und Feind getrunken, dein Schoß birgt die Leiber deutscher und russischer Helden! Es ist ein erhabener Gedanke, zu wissen, daß die Liebe zu dir solch große Opfer zu bringen vermag, aber tausendmal schöner wäre es, könnten sie alle für dich leben! Kurz nur ist solche besinnliche Betrachtung, denn wir fiebern nach Hause zu unseren Lieben. 

Vor Osterburken gab es langen Aufenthalt auf freier Strecke. Die Mannschaft benützte ihn, ihre letzten Handgranaten zu verwerfen. Die Bevölkerung der Umgebung mag dadurch wohl vorübergehend in Schrecken gejagt worden sein. Wir nähern uns der schwäbischen Heimat. Überall winkende und grüßende Menschen. Heilbronn - Bietigheim - Kornwestheim - Untertürkheim - Plochingen - Nürtingen - Metzingen - Reutlingen. Von Metzingen ab wird Leuchtmunition abgeschossen, um den Reutlingern unsere Ankunft zu melden. Kurz nach Mitternacht fahren wir langsam ein. Wir sind zu Hause. Die Regimentsmusik begrüßt uns mit dem Lied "Kennt ihr das Land in deutschen Gauen, das schönste dort am Neckarstrand?" Gleich darauf kann ich meine Frau in die Arme schließen; sie ist von Ötlingen hierher gefahren zum Empfang. 

Die Stadt Reutlingen freute sich ihres Regiments und bemühte sich um einen ehrenvollen Einzug. Eine Abordnung des Soldatenrats in Reutlingen überbrachte uns diesen Wunsch gleich nach unserem Eintreffen. Dabei kam es zu Meinungsverschiedenheiten: Der Soldatenrat des Ersatzbataillons verlangte Umzug hinter roter Fahne, ohne Gewehr, Kompagnieführer zu Fuß. Das Feldbataillon setzte seine Meinung durch: Regimentsstab, Bataillonsstab, die Kompagnien in der Reihenfolge 5., 6., 7. und 8. mit Gewehr, wer sonst beritten war, auch jetzt zu Pferde. Ende des Umzugs war der Hof der Hermann Kurz-Schule. Dort begrüßte der Oberbürgermeister der Stadt das Bataillon. Dann verabschiedeten der Regiments- und der Bataillonskommandeur die Kompagnien. Die Männer legten in der Turnhalle ihre Waffen und ihre Ausrüstung ab. Lebhaftes Händeschütteln und die Versicherung unvergänglicher Kameradschaft war der Schlußakt. "0 schöner Tag, wenn endlich der Soldat ins Leben heimkehrt, in die Menschlichkeit!" Drei Tage war ich noch in Reutlingen dienstlich festgehalten, bis Pferde, Wagen und sonstiges Inventar dem Soldatenrat übergeben war und die Entlaßpapiere für die Männer ausgestellt waren. Als ich hernach heimging, folgte mir das 2. Kompagniepferd (mein liebes "Füchsle") nach; ich hatte es käuflich erworben. Ich gab es einem Nachbarn für 5 Mark täglich in Wart und Pflege. 14 Tage später verkaufte es mein Schwiegervater in meiner Abwesenheit - aber in meinem Auftrag - an Gastwirt z.Linde und Metzger Ulmer in Weilheim u/Teck. Das treue Tier kam in gute Hände.

Tagebücher